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Morgen ist Heute schon vorbei


Als ich noch kleiner war, wollte ich immer größer werden.

 

Weil die Erwachsenen immer alles durften.

So viel Eis essen, wie sie wollten, so viel Cola trinken, wie wollten, so lange draußen bleiben, wie sie wollten.

Schlafen gehen, wann sie wollten.

Als ich noch kleiner war, wollte ich immer unbedingt größer werden.

Bis ich größer geworden bin.

Ich darf fast immer alles.

Ich darf so viel Eis essen, wie ich mit meinem Gewissen vereinbaren kann.

Ich darf so viel Cola trinken, wie ich noch mit meinem Schlafrhythmus in Einklang bringen kann.

Ich darf so lange draußen bleiben, wie ich mich alleine auf dunklen Straßen sicher fühle.

Ich darf Schlafen gehen, wann ich will, nur muss ich auch wieder aufstehen, wann mein Wecker will.

 

Als ich noch kleiner war, wollte ich immer größer werden.

Jetzt bin ich groß und ich will wieder Kind sein.

Ich will mir mehr Gedanken darüber machen, ob ich heute ein Baumhaus baue oder im Wald nach Elfen suche.

Ich will nicht darüber nachdenken, wann ich heute nach der Arbeit noch dazu komme, zu lernen.

Ich will ohne irgendwelche Gedanken mein Eis essen und meine Cola trinken.

Ich will nicht von einer kleinen leisen Stimme in meinem Kopf angeschrien werden, dass Zucker scheiße ist und ich das nicht essen sollte, wenn ich fette Kuh nicht weiter aufgehen will wie ein Hefeteigklumpen.

Ich will so viel Zeit haben, dass ich mich nicht entscheiden kann, mit wem ich mich wann zum Spielen treffe.

Ich will nicht durch meinen Kalender blättern, auf der Suche nach ein paar Stunden Zeit, die ich neben der Arbeit nehmen kann, um noch zu Leben.

 

Ich lebe, um zu arbeiten und ich arbeite, um zu leben, und das kostet mich Zeit, die ich nicht habe.

Zeit ist kostbar und als Kind war mir das nie bewusst.

Morgen ist Heute schon vorbei und Gestern ist auch schon wieder viel zu schnell vergangen.

Die Zeit rennt und ich renne atemlos hinterher.

Ich sollte so vieles schon erledigt haben, so vieles schon erreicht haben, aber ich sehe keine Ziellinie.

Ich renne und renne, aber alles scheint für immer unerreichbar.

 

Als ich noch kleiner war, wollte ich immer groß werden.

Weil die Erwachsenen immer alles durften.

Jetzt bin ich erwachsen.

Ich bin zu erwachsen um zu Leben.

 

 

Morgen ist Heute schon vorbei, und noch immer habe ich nichts erreicht.


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Kommentare: 4
  • #1

    Eve (Donnerstag, 18 August 2022 10:50)

    Sehr schöner Text! Aber vergiss nie, du bist so viel mehr als Schönheitsstandards und Achievements! <3

  • #2

    Ela (Donnerstag, 18 August 2022 10:54)

    Danke, Eve! <3

  • #3

    Mateusz (Freitag, 17 November 2023 17:27)

    “Who are you?” said the Caterpillar.
    This was not an encouraging opening for a conversation. Alice replied, rather shyly, “I—I hardly know, sir, just at present—at least I know who I was when I got up this morning, but I think I must have been changed several times since then.”
    “What do you mean by that?” said the Caterpillar sternly. “Explain yourself!”
    “I can’t explain myself, I’m afraid, sir,” said Alice, “because I’m not myself, you see.”
    “I don’t see,” said the Caterpillar.
    “I’m afraid I can’t put it more clearly,” Alice replied very politely, “for I can’t understand it myself to begin with; and being so many different sizes in a day is very confusing.”
    “It isn’t,” said the Caterpillar.

    Liebe Ela, immer wenn es mir so vorkommt, als ob die Zeit an mir vorbeirasen und ich vor Ohnmacht zusammenbrechen würde, suche ich Alice im Wunderland auf. Denn um es der Welt recht machen zu wollen, kann man sich winden und wenden wie man will, doch

    “I’ve tried every way, and nothing seems to suit them!”
    “I haven’t the least idea what you’re talking about,” said Alice.
    “I’ve tried the roots of trees, and I’ve tried banks, and I’ve tried hedges,” the Pigeon went on, without attending to her; “but those serpents! There’s no pleasing them!”

    Tauche ich dann aus dem Kaninchenloch wieder auf - der Rückweg kann schon mal die ganze Nacht in Anspruch nehmen - fühle ich mich gestärkt und bereit, der Katze in die Augen zu sehen.
    “Cheshire Puss,” she began, rather timidly, as she did not at all know whether it would like the name: however, it only grinned a little wider. “Come, it’s pleased so far,” thought Alice, and she went on. “Would you tell me, please, which way I ought to go from here?”
    “That depends a good deal on where you want to get to,” said the Cat.
    “I don’t much care where—” said Alice.
    “Then it doesn’t matter which way you go,” said the Cat.
    “—so long as I get somewhere,” Alice added as an explanation.

    In diesem Moment sitze ich schon auf dem Fahrrad irgendwo in den windigen Feldern fernab der Stadt und ihrer Menschen. Aber über mir am Nachthimmel die Grinsekatze, die mir die Richtung vorgibt.
    “In that direction,” the Cat said, waving its right paw round, “lives a Hatter: and in that direction,” waving the other paw, “lives a March Hare. Visit either you like: they’re both mad.”
    “But I don’t want to go among mad people,” Alice remarked.
    “Oh, you can’t help that,” said the Cat: “we’re all mad here. I’m mad. You’re mad.”
    “How do you know I’m mad?” said Alice.
    “You must be,” said the Cat, “or you wouldn’t have come here.”

    Wahnsinn!
    Es wäre doch Irrsinn, das Feld der Literatur der KI zu überlassen, wenn es doch Texte wie Deine gibt, Ela!

  • #4

    Ela (Sonntag, 19 November 2023 13:16)

    Lieber Mateusz,

    Vielen Dank für deinen inspirierten Kommentar, es hat mir sehr viel Spaß gemacht ihn zu lesen. Alice im Wunderland ist in der Tat eine sehr schöne Flucht und Auffangsstelle vor der Realität.
    Pass auf dich auf und alles Gute weiterhin! :)